/Vom Entstehen und Vergehen der Elemente.
Den Begriff Schönheit verbinden wir üblicherweise mit Perfektion, Makellosigkeit und Dauerhaftigkeit. Wir bewundern Kunstwerke, die für die Ewigkeit geschaffen wurden. Doch hat nicht gerade das, was wir oft als Unvollkommenheit empfinden, seinen ganz eigenen Reiz? Schließlich beruht das Leben selbst auf ständigem Wandel. Denn nur durch die Veränderung kann Neues entstehen.
Oxidation als produktive Kraft
Ein gutes Beispiel dafür ist das Prinzip der Oxidation. Bei diesem chemischen Vorgang reagieren verschiedene Materialien mit Sauerstoff und verändern dadurch ihre Struktur. Viele Handwerkstechniken setzen die Oxidation produktiv ein. So kann man eiserne Gegenstände mit einer Schicht aus Edelrost schützen.
Beim Färben mit Indigo erscheinen die im Bottich getränkten Stoffe zunächst gelblich-grün. Erst die Oxidation an der Luft erzeugt die gewünschte blaue Färbung.
Auch beim Tee (camelia sinensis) unterscheiden sich die Sorten mit dem Grad der Oxidation. Von unfermentierten grünen Tee, leicht fermentiertem weißem Tee bis zu stark fermentiertem schwarzen Tee.
Behandelt man Eisen mit unfermentierten Grünteelättern oxidiert es insbedondere wenn man es gemeinsam erhitzt und die Flüssigkeit eindampfen läßt. Es bildet sich eine Oxidschicht, die das Eisen schützt wenn man es danach versiegelt z.B. mit Öl oder es trocken gehalten wird.
Oxidizing forged iron brooches in iron bowl – heated together with green tea leaves.
Treatment cast iron Japanese tetsubin (water kettle) with green tea to reseal the inside surface.
Oxidation und Schönheit
Oxidation verändert also die ursprüngliche Form von Gegenständen, sie löst Grenzen auf und schafft dadurch Neues. Spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wird dieser Effekt auch in der Kunst eingesetzt. Denn wenn Metall oxidiert, entsteht eine enorme Vielfalt an Farbtönen. Die orangebraune Farbe von Rost auf altem Eisen oder das matte Grün eines Kupferdaches inspirieren so zu außergewöhnlichen Werken.
Ein besonders berühmtes Beispiel dafür ist das “Oxidation Painting” im Whitney Museum in New York. Andy Warhol besprühte 1978 eine zwei Meter hohe und fünf Meter lange, mit Kupferpigmenten bestrichene Leinwand mit Urin. Auf der siebten Documenta, 1982, hatte das Kupfer an vielen Stellen noch einen starken Glanz. Mittlerweile wirkt die gesamte Fläche deutlich matter.
Außergewöhnliche Effekte durch den Einsatz von Oxidationsmitteln
Wie Warhols Kunstwerk zeigt, entwickeln sich natürliche Rost- und Patinaeffekte sehr langsam und sind nur mit bestimmten Materialien möglich. Der Einsatz von Oxidationslösungen erweitert das Spektrum erheblich. Neben dem Metall erobert Rost jetzt auch ganz neue Trägermaterialien wie beispielsweise Papier, Holz, Glas, Beton oder Stein.
Der Fantasie sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Wenn Künstler Pfützen auf der Oberfläche stehen lassen, einzelne Teile abdecken, Salz oder destilliertes Wasser zur Verdünnung nutzen oder Tinten und Tuschen hinzugeben, entstehen überraschende Effekte. Denn Oxidation lässt sich nur bedingt steuern, der Reiz liegt vor allem im Experimentieren
Rostspuren auf einem Blech verursacht durch Salzsprühtests
MaBaOsna, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Fünf-Elemente-Lehre, Wuxing,
Wandlungsphasen-Zyklen
Was Oxidation mit der asiatischen Theorie der fünf Elemente gemeinsam hat
Die Fünf-Elemente-Lehre (chinesisch wuxing) – oder auch die „Lehre der Fünf Wandlungsphasen“ – führt alle Dinge auf die Grundelemente Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde zurück und ist eine daoistische Theorie zur Naturbeschreibung. Die Elemente unterliegen einer ständigen Veränderung, erzeugen und zerstören einander in einem fortwährenden Kreislauf.
Im Erzeugungs- oder Sheng-Zyklus ernährt jedes Element das nachfolgende:
-
- Brennholz ist Grundlage für Feuer
- Feuer verbrennt Holz zu Asche und nährt die Erde
- Erde erschafft aus Mineralien Metall
- Metall reichert das Wasser mit Spurenelementen an
- Holz benötigt Wasser, um zu wachsen
Entgegengesetzt verläuft der Schwächungs-Zyklus:
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- Feuer verbrennt das Holz.
- Holz saugt das Wasser auf.
- Wasser korrodiert das Metall.
- Metall zieht die Mineralien aus der Erde.
- Erde erstickt das Feuer.
Oxidation als Beispiel für den Kreislauf des Daseins
Das Zusammenspiel der fünf Elemente wirkt sich auf die verschiedensten Gebiete aus. Es bestimmt Abläufe im menschlichen Körper ebenso wie Abläufe in der Medizin, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Mangel oder Überfluss eines Elements schädigen das gesamte System. Eingriffe sind deshalb nur sinnvoll, wenn sie diese Zusammenhänge berücksichtigen.
So lässt sich auch bei der Arbeit mit Oxidation nur ungefähr abschätzen, wie ein Kunstwerk am Ende aussehen wird. Vieles ist der menschlichen Kontrolle entzogen. Es bleibt dem natürlichen Lauf der Dinge überlassen, der aus dem Alten immer wieder Neues hervorbringt.
Dieses Denken in Kreisläufen ist sehr viel archaischer und älter als das aufgeklärte, lineare Denken. Es betrachtet die Veränderung nicht als Ende, sondern als fortwährende Wandlung in etwas Neues. Durch Oxidation veränderte Dinge sind ebenso ein Memento für die Schönheit der Vergänglichkeit wie für die Macht der Veränderung und unseren geringen Einfluß darauf.
Ahornblatt, das über Winter mit einer Eisenschale eine Verbinung eingegangen ist, partiell vergoldet